Der Mensch bleibt der grösste Risikofaktor

Der Mensch bleibt der grösste Risikofaktor

Interview zum Thema Sicherheit im Strassenverkehr mit René Früh, Leiter Schadenexperten Motorfahrzeug, Zurich

Herr Früh, jede Woche sterben vier Menschen auf Schweizer Strassen: Warum gibt es so viele Unfälle?

Zunächst: Jedes Verkehrs­unfall­opfer ist eines zu viel. Dennoch ist das Auto­fahren bereits viel sicherer geworden.1970 gab es pro Tag noch fünf Todes­opfer von Verkehrs­unfällen, achtmal mehr als heute. Und dabei waren damals viel weniger Autos unterwegs, und sie legten im Schnitt auch deutlich weniger Kilo­meter zurück. Seither hat sich viel getan, vor allem in der Automobilt­echnik. Aktive Sicherheits­systeme wie zum Beispiel ABS helfen, Unfälle zu verhindern und passive Sicherheits­systeme wie Air­bags mildern deren Folgen. Ausserdem ist das Bewusst­sein der Bevöl­kerung für das Thema gestiegen. Und schliesslich werden die Strassen heute sicherer gebaut.

Was hat sich beim Strassen­bau verändert?

Die Kantone und der Bund analysieren laufend Unfall-Hotspots und versuchen diese zu entschärfen, unter anderem im Rahmen von Initiativen auf Bundes­ebene. Auch neue Strassen­bau­projekte werden gezielt auf Verkehrs­sicherheits­defizite überprüft. Damit gefährliche Punkte erst gar nicht entstehen.

Die absolute Sicher­heit ist eine Schein­sicherheit.


René Früh

Stichwort aktive Sicherheits­systeme: Muss ich dank ABS, Brems­assistent und Abstand­halter keine Angst vor Unfällen mehr haben?

Diese absolute Sicherheit wird in der automobilen Werbung gerne suggeriert. Doch aus meiner Sicht ist das eine Schein­sicherheit. Denn die moderne Technik kann nicht alles verhindern. Beispiel Park­sensoren: Wenn das «Distanz-Warnsystem» an jeder Ampel piept, verführt das zum Ausschalten. Doch im Park­haus denkt man nicht mehr daran – und hat dann plötzlich die Säule erwischt. Wir hatten übrigens noch nie so viele Schäden an parkierten Autos wie heute, sowohl solche von anderen Lenkern als auch eigen­verursachte.

Parkschäden sind das eine – aber richtig gefährlich sind ja Kolli­sionen mit anderen Fahr­zeugen. Und die kann moderne Technik künftig weit­gehend verhindern, oder?

Schon heute fahren auf unseren Strassen Autos herum, deren Techno­logien helfen, gewisse Unfälle zu reduzieren. Ich denke hier zum Beispiel an Geschwindigkeits- und Abstands­regel­systeme, Stau- und Brems­assistenten oder Fussgänger­erkennung mit automatischer Voll­bremsung. Ein Meilen­stein wird dann die Kommunikation der Fahrzeuge untereinander sein. So kann beispielsweise ein Pannen­fahrzeug die nachfolgenden warnen. Das Problem dabei: Wenn fünf Fahrzeuge vor einem Hindernis kontrolliert abbremsen, kann es trotzdem zum Unfall kommen. Nämlich dann, wenn der folgende Lenker ungebremst auffährt, weil sein Auto noch nicht mit der entsprechenden Technologie ausgerüstet ist.

Ab wann werden alle Autos fähig sein, miteinander zu kommunizieren?

Ab Einführung eines neuen Sicherheits­systems dauert es in der Regel rund 20 Jahre, bis alle damit ausgerüstet sind, weil der Fahrzeug­park dann mehr oder weniger einmal erneuert ist. Doch es wird immer Verkehrs­teilnehmer geben, die nicht über derartige Systeme verfügen. Ich denke da an Fuss­gänger, Oldtimer, Motor­räder, Velo­fahrer oder auch land­wirt­schaftliche Maschinen. So lange ein gewisser Prozent­satz der Fahr­zeuge diese «modernen Helfer» nicht an Bord hat, ist es eben noch nicht wirklich sicher. Was man nicht vergessen darf: Egal, wie ausgefeilt die Technik ist, die Natur­gesetze lassen sich nicht auf den Kopf stellen. Wichtig ist eben, dass die modernen Systeme  kein «falsches» Sicherheits­bewusstsein beim Fahrer erzeugen und ihn so verleiten, höhere Risiken einzugehen.

Nicht das Fahrzeug schützen, sondern die Menschen.


René Früh

Wenn es doch zum Unfall kommt: Wie wirksam sind die passiven Sicher­heits­systeme?

Da hat sich ebenfalls viel getan, zum Beispiel mit Airbag- und Gurt­systemen, Innenraum­gestaltung und im gesamten Carrosserie­bereich. Was Kollisionen so gefährlich macht, sind die starken Aufprall­kräfte. Moderne Fahrzeuge sind so konstruiert, dass diese Kräfte gezielt in die Carrosserie geleitet werden. Dort gibt es Deformations­zonen, die Energie abbauen. So ist die Belastung für die mitfahrenden Menschen kleiner. Die Systeme werden laufend verbessert, beispielsweise bei der Sensorik und der Auslöse­strategie der zahlreich verbauten Airbags, bei den Gurtstraffer­systemen oder bei aktiven Kopf­stützen.

Doch auch hier gibt es noch keine perfekte Welt. Die Techniker müssen Kompromisse eingehen, weil sie nicht wissen können, mit wem oder was das Fahr­zeug einen Unfall haben wird. Wichtig ist es, nicht das Fahr­zeug zu schützen, sondern die Menschen. Und das gilt natürlich auch für den Kontakt mit Fuss­gängern und Velo­fahrern. So sind zum Beispiel die trendigen SUVs für die Insassen bei gewissen Unfall­konstellationen sicherer, doch wegen ihrer Höhe und Masse sind sie für andere Kollisions­partner gefährlicher als kleinere und leichtere Autos. Trotz guter Fort­schritte bleiben SUVs aufgrund ihrer Grösse und Geometrie problematisch, beispiels­weise beim Fussgänger­schutz.

Welche Rolle spielt der Faktor Mensch?

Für mich ist das persönliche Verhalten eines jeden Verkehrs­teil­nehmers weit wichtiger als jedes Sicherheits­system. Der Mensch bleibt der grösste Risiko­faktor. Deshalb muss er seinen Teil beitragen: Gurte und Kinder­sitze sorgen nur dann für mehr Sicher­heit, wenn man sie konsequent nutzt. Dasselbe gilt für Velo­helme und Leucht­streifen an der Kleidung. Ein weiteres Thema ist Alkohol: Vor 20 Jahren galt es als Kavaliers­delikt, nach drei Gläsern Wein noch Auto zu fahren. Das hat sich gottseidank grundlegend geändert, vor allem in der jüngeren Generation. Dafür gibt es jetzt eine neue Gefahren­quelle: Smart­phones. Wir vermuten, dass bei einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Unfällen solche Gadgets als Mitursache im Spiel sind, auch wenn das natürlich kaum jemand zugibt. Doch bei einer aktuellen Studie haben 11 Prozent der Befragten angegeben, mindestens einmal pro Jahr am Steuer SMS zu schreiben, von den Jung­lenkern sogar 27 Prozent.

Autofahren ist hochkomplex.


René Früh

Und in 20 Jahren gibt es dann endlich keine Un­fälle mehr, weil die Autos allein steuern, oder?

Warten wir’s ab. Ich persönlich zweifle noch an einer kompletten Auto­matisierung. Denn Auto­fahren ist hochkomplex im Ver­gleich zu anderen Verkehrs­systemen. Beim routinierten Auto­fahrer geschieht vieles intuitiv, aufgrund seiner Erfahrung schätzt er Verkehrs­situationen korrekt ein, ohne gross darüber nachzudenken. Das müssen Computer erst noch lernen. Bei bestimmten Strassen­abschnitten, beispielsweise auf Auto­bahnen, ist eine höhere Auto­matisierung in den nächsten Jahren jedoch durchaus vorstellbar.

Was macht das Autofahren eigentlich so komplex?

Bei der Bahn geben Schienen die Rich­tung vor. Beim Flug­zeug steht die dritte Dimension zur Verfügung, d.h. man kann nicht nur nach links oder rechts ausweichen, sondern zusätzlich noch nach oben oder unten. Für Auto­fahrer gibt es eben nur die Strasse, welche sie sich oft noch mit Motor­rädern, Velos und Fuss­gängern teilen müssen. Was mich nach­denklich macht: Flug­zeuge könnte man heutzutage vom Start bis zur Landung über Auto­pilot steuern. Und trotzdem sitzt da nach wie vor nicht nur ein hoch­qualifizierter Fach­mann im Cock­pit, sondern sogar zwei.

Die Fragen stellte Katrin Schnettler Ruetz, Zurich-Schreib­werkstatt.

Rene Frueh
René Früh ist Dipl. Auto­mobil­ingenieur FH und seit 2003 Leiter Fahrzeug­experten & Unfall­analysen bei Zurich. Sein Verantwortungs­bereich beinhaltet zusätzlich das Expertisen­center, den zentralen Restwert­handel sowie die Garantie-Sachbearbeitung Real Garant in Basel. Weitere Stationen seines beruflichen Werde­gangs: Verkehrsunfall­ananalytiker, Ausbildner Fahrzeug­experten, Stellvertretender Chefexperte.

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